Das ist auch auffällig für mich: die Rolle von Ausländern. Die in deinen Filmen, insbesondere jenen aus den späten siebziger und achtziger Jahren, häufig als exotische Attraktion auftauchen. Was vielleicht damals von vielen so empfunden worden ist: Plötzlich kommen in die eher monokulturelle deutsche Welt Fremde, und die sind auch in sexueller Hinsicht aufregend.
Das fing eben an mit meinen London-Reisen, wo ich auch Schwarze getroffen habe, und die waren sehr viel netter als die Engländer. Komischerweise war die sexuelle Attraktion genauso abrupt, wie sie begonnen hatte, wieder vorbei. Dann waren’s mehr die Türken und Araber, die mich sexuell interessiert haben.
Diese Ausländer erscheinen bei dir häufig auch als hilfe- und schutzbedürftig.
Alles, was ich erlebt oder an Lust- und Leidensgeschichten mitgekriegt habe, spiegelt sich eben in den Filmen. Darum ist es für mich jetzt auch so schwer, eine Spielfilmhandlung zu erfinden: Meine Neugier auf Menschen ist heute direkter, paßt eher zu einer Dokumentation. Ich muß nicht mehr den Umweg machen, aus Menschen, die mich faszinieren, Filmfiguren zu destillieren. Vielleicht hat es auch damit zu tun, daß ich vor den Leuten nicht mehr soviel Angst habe, daß ich mich ihnen direkt zuwenden kann und nicht mehr den Schutz der Rolle brauche, auch meiner Rolle als Filmemacher.
Deine Filme sind – abgesehen von „Ein Schuß Sehnsucht – Sein Kampf“, wo dies wohl auf Zobus’ Konto geht – nie explizit politisch, was ja deiner persönlichen Haltung entspricht. Deine politische Indifferenz galt auch für Schwulenpolitik?
Die galt für alles.
Du bist nicht einer, der Anfang der siebziger Jahre begeistert war: Toll, jetzt können wir offen sagen, daß wir schwul sind, und jetzt wollen wir uns auch engagieren?
Ich habe in meinem Leben nie ein Wir-Gefühl gehabt. Wenn ich mit Menschen zu tun habe, ist immer eine persönliche Sache.
Lothar Lambert 1971
Trotzdem: Hat sich nicht mit der rasanten gesellschaftlichen Liberalisierung um 1970, nicht nur was Homosexualität anging, mit den gewaltigen Veränderungen, die in diesen Jahren stattgefunden haben – du weißt ja selbst: 1965 und 1975 trennen in dieser Hinsicht Welten voneinander –, auch bei dir etwas entwickelt, in deinem Selbstbewußtsein, deinem Selbstverständnis?
Nein, das ist an mir vorbeigegangen.
Aber du konntest nun sagen, daß du schwul bist. Nicht nur aus juristischen Gründen, sondern weil es auch von mehr Menschen akzeptiert wurde; und mehr es sagten.
Es ging mir nicht ums Sagen. Es ging mir ums Machen.
Du wolltest nicht „dein Schwulsein öffentlich machen“, wie ein auffordernder Slogan jener Jahre lautete?
Nee, wieso denn? Im Gegenteil. Ich hab mich auch nicht darüber definiert. Das Schwulsein ist nie die zentrale Frage in meinem Leben gewesen. Das war ein Teil von mir, aber, was mein soziales Leben betraf, nicht der dominante. Ich hab ja auch viel mit Frauen zu tun gehabt. Auch mit Heteromännern bin ich gut ausgekommen. Meine Schulfreunde waren ebenfalls gemischt. Offiziell wußten die nicht, daß ich schwul bin. Darüber wurde nicht geredet, auch mit anderen Schwulen nicht.
Das ist ja auch in den frühen Sechzigern gewesen,...
1964 hab ich Abitur gemacht.
...wo man generell eher nicht über Sexualität geredet hat.
Andere vielleicht schon, aber ich kann mich nicht daran erinnern. Ich habe gleich nach dem Abitur mit ein paar Schulfreunden diese Reise nach England und Irland gemacht. Die Heteros sind wie wild den Mädchen hinterher. Ich habe mich dann auch mit einem angefreundet, habe aber beim Übernachten mit deren sechzehnjährigem Freund zum ersten Mal so ’n bißchen rumgefummelt. Also, es ist so ein weites, graues Feld – man erinnert sich ja immer punktuell, an ein paar Situationen, letztendlich nicht an das ganze Leben.
Womöglich erinnert man sich an die Situationen auch falsch.
Das auch. Und wenn man sie erzählt, erzählt man sie natürlich mit dem Bewußtseinsstand von heute. Was ich dir jetzt berichten kann, sagt also wenig darüber, wie ich damals gefühlt und gedacht habe.
Es sagt etwas über den heutigen Bewußtseinsstand.
Was ich wirklich weiß: daß diese ganzen Pubertätsjahre insofern schrecklich waren, als ich total von Unsicherheit und Angst geprägt war. Das hat alles überlagert. Egal, ob es da ums Schwulsein ging oder ob das andere Ängste waren – ein Gedicht aufsagen zu müssen in der Schule, wo mir die Luft weggeblieben ist, oder überhaupt in der Öffentlichkeit sprechen zu müssen. Im Studium hab ich einmal eine Frage stellen wollen, habe mich aber schon beim Melden so aufgeregt, daß ich fast einen Herzschlag gekriegt hätte, da habe ich’s dann sein lassen. Das war während der gesamten Uni-Zeit mein Beitrag zur Studentenbewegung. Ich weiß auch gar nicht, wann das begann, daß ich diese Angst vor Menschen ein bißchen verloren hab. Daß Menschen mich, etwa bei einer Premiere, als locker empfinden. Ursprünglich hätte ich gar nicht in Berlin studieren können. Meine Eltern – die ja wußten, wie ängstlich ich war und daß ich nicht weg wollte – haben mit irgendwelchen Tricks durchgesetzt, daß ich doch in Berlin einen Studienplatz kriegte. Dann hab ich hier aber kein Volontariat gefunden, sondern mußte nach Bad Segeberg. Für ein Dreivierteljahr, wo ich als Reporter, mit der Kamera, über alle möglichen gesellschaftlichen Ereignisse berichten mußte, vom Autorennen bis zur Goldenen Hochzeit. Die Redakteure waren alles so gestandene Kerle, mit denen sollte ich immer saufen nach Redaktionsschluß, das war mir ’ne Qual. Habe ich auch nicht gemacht. Da dachten die natürlich: Der denkt, er ist was Besseres, aus Berlin.
Du hattest nicht irgendwann die schockierende Selbsterkenntnis: Ich bin anders, ich hab andere sexuelle Bedürfnisse als die meisten meiner männlichen Mitschüler?
Es war ein Prozeß. Ich hab mich auch lange dagegen gewehrt, anders zu sein, und versucht, mitzuhalten. Eine Erkenntnis brachte dann diese Irland-Reise. Danach habe ich gedacht: Dein einer Schulfreund ist doch bestimmt schwul! Du bist es wahrscheinlich auch, jetzt bittest du den mal, daß er dich mitnimmt in ein schwules Lokal, der kennt bestimmt welche. So ganz rational.
Da du immerhin in Berlin aufgewachsen bist, war dir nicht vollkommen unbekannt, daß es so etwas wie Homosexualität gibt?
Das wußte ich. Und dieser Schulfreund war mir immer schon so ein bißchen halbseiden vorgekommen.
Der war aber unattraktiv?
Nein, der war ganz attraktiv.
Der wollte dich aber nicht? Mit dem anzubandeln, wär ja das Naheliegendste gewesen.
Den kannte ich zu gut. Der Gedanke kam mir nicht.
Aber ich stelle mir vor, damals war die Auswahl eher beschränkt, wie es auch die Kontaktmöglichkeiten waren.
Och nö, das war nicht beschränkt. Was denkst du, was in den Schwulenlokalen los war?
Heutzutage stellt man sich vor, in den Sechzigern gab es drei, fünf oder höchstens zehn „einschlägige“ Lokale in ganz West-Berlin...
Da ist man von einem Lokal zum anderen gezogen, die waren alle knallvoll.
Und da saßen alle verschüchtert herum und hatten Angst, angezeigt zu werden?
Nee, die waren alle wie die Wilden. Haben getanzt wie die Wahnsinnigen.
Und auch Kontakte geknüpft?
Natürlich. Aber ich bin für sowas nicht gewesen. Ich weiß noch, in einem Lokal war W.H. Auden mit seinem Liebhaber, einem jungen Mann aus England. Der wollte mit mir gleich aufs Klo und Sex machen, derweil der Alte im Lokal saß. Oder ich sitze im 19er Bus, auf dem Ku’damm, und im Cabrio fährt die ganze Zeit einer nebenher und winkt mir, daß ich aus dem Bus aus- und in seinen Wagen einsteigen soll.
Wir befinden uns noch mitten in den sechziger Jahren, du bist zwanzig...
Ja, Anfang zwanzig. Solchen Sachen habe ich mich verweigert. Es gab viele Dinge, bei denen ich einfach nicht mitgemacht hab. Sowas hab ich alles ekelhaft gefunden. Oder die Schonung im Grunewald: Dahin bin ich immer mitgegangen, hab mich auf einen Ast gesetzt, mir den Mond und die Sterne angesehen und gewartet, bis meine Freunde ihre Sexkontakte gehabt hatten, wieder rauskamen und wir tanzen gehen konnten. So war ich am Anfang. Und dann wollte mal einer Sex mit mir, der verheiratet war – das ging ja überhaupt nicht! Da siehst du mal, was ich für Moralvorstellungen hatte.
Die haben sich aber später geändert?
Die haben sich sozusagen ins Gegenteil verkehrt.
Lothar Lambert 1981 in Dagmar Beiersdorfs „Dirty Daughters“
Und wie gestaltete sich nun die Einführung durch den schwulen Schulfreund?
Der hat mich eben mitgenommen, und das war’s dann. Da hab ich auch gleich einen Schriftsteller kennengelernt, der für mich uralt war, fünfundvierzig. Der sprach über die jungen Männer, die er aufgerissen hatte, oder über den Sex mit ihnen wie über ein gutes Essen. Nicht über den Menschen, sondern über dessen Qualität als Sexobjekt. Das fand ich furchtbar. Mit mir wollte er immer kulturelle Sachen machen, ins Theater gehen und so – ich habe das alles abgelehnt, bin stattdessen jeden Abend zum Tanzen. Ich hab mein Leben lang nicht danach geschielt, wie ich in die feine Gesellschaft komme oder mir sonst irgendwelche Vorteile erarbeiten kann, sondern hab mich nur für meinen Spaß interessiert. Das klingt ein bißchen oberflächlich, aber so bin ich letzten Endes immer meinen Bedürfnissen gefolgt. Ich wollte tanzen, das war mein Ding. Und ein, zwei Jahre später habe ich selbst die Kinemathek in der Schlüterstraße entdeckt, da habe ich dann lauter Stummfilme gesehen. Ich habe mich also nicht bestimmen lassen von den Erwartungen anderer. Dazu paßt auch, daß man mich immer wieder zu Demos mitschleppen wollte und ich gesagt habe: Nee, ich will nicht. Oder alle haben die Beatles gehört – ich habe mich weiter für Schlager interessiert.
Damals war noch nicht das Bewußtsein dafür entwickelt, daß das voll ins Schwulenklischee paßt? Oder existierte dieses Klischee noch nicht?
Nein. Erst heute wirst du ja geradezu bombardiert mit Informationen jeder Art. Ich weiß noch, wie ich mich an einem Zeitungskiosk auf die Zehenspitzen gestellt habe, weil in einem Fenster „Helios“ hing, das war so eine FKK-Zeitschrift. Das Heft war ein wenig verrutscht, so daß man die Brust sehen konnte oder das Büschchen – da hab ich mich hingestellt und versucht, mehr von zu sehen. Es war auch egal, ob Mann oder Frau. Das mit dem Schwulsein muß erst später eingesetzt haben.
Na ja, in den fünfziger Jahren gab es noch sehr wenig Nacktes, da war wohl das Interesse generell sehr groß. Du hast ja noch nicht Aufklärungsunterricht in der Schule gehabt...
Doch! Wir hatten Aufklärungsunterricht. Da kam einer und sagte: Onanieren – das tun alle, auch eure Väter! Ich war so schockiert. Ich hatte da schon selbst onaniert, aber daß das alle machen...